Triangulationen

Recherche rund um die Frage der individuellen Identität.

Obwohl wir unsere persönliche Identität mit Hilfe von Merkmalen definieren (die sich auf Alter, körperliche Erscheinung, Wohnort, Glauben, Meinungen usw. beziehen können), existieren diese immer nur im Verhältnis zu anderen, denen sie entgegengesetzt sind oder von denen sie sich unterscheiden. So bestimmt die von uns wahrgenommene Definition unserer persönlichen Identität immer in Negativform wovon wir uns differenzieren. Sie wird also immer durch eine Beziehung zu einer Andersartigkeit bestimmt. Es handelt sich also nicht um eine Summe von Merkmalen, sondern um ein Netzwerk von Beziehungen (der Identität, Ähnlichkeit, Unterscheidung, Opposition usw.) zwischen verschiedenen Vorstellungen von Entitäten, Merkmalen und Werten, die unsere Vorstellung der Welt ausmachen.

Die Konstruktion unserer persönlichen Identität, d.h. der Prozess der Stabilisierung und Fixierung dieses Netzwerkes, findet lebenslang durch die Erfahrungen und Begegnungen statt, die wir machen. Es ist ein Prozess, durch den das Subjekt die Vorstellungen sucht und kultiviert, mit denen es sich identifiziert oder von denen es sich differenziert. Diese Bewegungen und Fixierungen von Identifikationen finden zum Teil unbewusst statt, und das Bewusstsein für das Netzwerk von Überzeugungen (für das Wertesystem), mit dem wir uns identifizieren und das unsere Identität ausmacht, erfolgt durch die Begegnung mit Menschen oder durch die Erfahrung von Ereignissen oder Situationen, die eine Andersartigkeit dieser Überzeugungen definieren ggf. ausdrucken. Es ist also das Verhältnis der Standpunkte untereinander, die es uns ermöglicht, sie zu verstehen und zu definieren.

Triangulationen ist ein Rechercheprozess, der zunächst darauf abzielt, mit jedem Performern die Verbindungen zwischen seinen gelebten Erfahrungen und den von diesen Erfahrungen hervorgebrachte Vorstellungen und Überzeugungen, zu erforschen. Die Arbeit besteht daher darin, Situationen, Ereignisse oder Erfahrungen aufzudecken, die bedeutsam waren und weiterhin eine Rolle bei der Konstitution ihrer Identität spielen, oder die ggf. Quelle von Spannungen oder Widersprüchen in dem Wertesystem ihrer Identität sind. Aus dieser Erkundung heraus bilden wir einen performativen Rahmen, der auf Modalitäten der Bewegung, des Sprechens und/oder der Vokalisierung basiert (siehe Forschung: die Körperlichkeit der Sprachen) und nicht darauf abzielt, Individuen zu inszenieren, sondern sie in Beziehungsnetze einzuschreiben: ihre Beziehung zu ihrer Geschichte, zu ihrer Kultur, zu ihrer Sprache, zu den Blicken der anderen, zur Gegenwart usw.

Als das Kind noch nicht in der Lage ist, seine Bewegungen vollständig zu kontrollieren, offenbart das Spiegelstadium dem Kind die Diskrepanz seiner solipsistischen Erfahrung und seiner Existenz für andere. Es ist die Entdeckung von zwei parallelen Welten. Es ist die Entdeckung meiner Existenz als Repräsentation, d.h. der Nicht-Zugehörigkeit meines Körpers zu mir selbst, zum Selbst, aber zur Welt der Repräsentationen. Verschiedene Momente dieser Entdeckung werden von Gefühlen des Grauens und/oder der Freude begleitet. Entsetzen über die Entdeckung der unüberwindlichen Kluft zwischen “ich” und meinem Sein für andere. Freude über die Entdeckung der gewonnenen Kontrolle über diesen Objekt-Körper, die mich plötzlich mit einer Erweiterung meiner Macht über die Welt lohnt. Es ist die Geburt einer „entfremdenden Identität“, wird Lacan sagen, „die die Instanz des Ich, noch vor seiner sozialen Bestimmung, in eine Linie der Fiktion stellt, […] die sich dem Werden des Subjekts nur asymptomatisch anschließen wird, unabhängig vom Erfolg der dialektischen Synthesen, durch die es als ich seine Diskordanz mit seiner eigenen Realität auflösen muss.“

Die ständige Bewegungen des Bewusstseins, die aufgrund dieser Diskrepanz zwischen meinen Wahrnehmungen, meinem Gefühl, meinem Ausdruck, meiner phantasierten Repräsentation meines Selbsts und meiner Repräsentation des Anderes entstehen, wird besonders deutlich in der Beziehung, die wir zu unserem Gesicht haben. Es ist genau das Gesicht, das ich nie sehe, das nie, in meinen Interaktionen mit anderen, in meinem Wahrnehmungsfeld sich sehen lässt. Es ist das fremdeste meiner “ichs”. Und doch ist es dasjenige, das ständig „ich“ für andere ist. Es ist der zwanghafte und allgegenwärtige Fremde meines Zusammenseins mit anderen. Dasjenige, das ich ständig zu kontrollieren und zu kanalisieren versuchen werde, um mit der Welt in Verbindung zu treten. Es ist dasjenige, das ich durch die Reflexion, die die Bewegungen und Klänge anderer an mich zurücksenden, immer wieder zu erfassen versuchen werde. “Mein Körper, erbarmungslose Topie”, schrieb Foucault. Denn es ist in der Tat dieser Körper-Ort dort, außerhalb von mir, unzugänglich, an den sich die anderen für immer wenden werden, um Zugang zu mir zu erhalten. Mein Körper, Inkarnationsraum der unüberschreitbaren Trennung zweier Orte ohne Räume: das mit-dem-anderen und das Selbst.

Infolgedessen geschieht das Spiel des Schauspielers als ein kontinuierlicher und verzweifelter Versuch, derjenige zu sein, an den sich der andere wendet. Ein Versuch, zu beweisen, dass man sich selbst ist, indem man dieses Bild, diese Äußerlichkeit des an-sich beherrscht. Dieser Versuch, das zu sein, was der andere als ich wahrnimmt.

Triangulationen ist die Erforschung dieser Rückschläge, dieser dialogischen Bewegungen zwischen verschiedenen Fokussierungen des Bewusstseins, zwischen verschiedenen Bewusstseinszuständen, und die Erforschung der dialektischen Konstruktionen, die die Anordnung und die Interaktionen dieser verschiedenen Zustände erzeugen. Es ist der Versuch, sich selbst zu erreichen, indem zwischen verschiedenen Modalitäten der Aufmerksamkeit auf das, was “ich” ist, abgewechselt wird: die Aufmerksamkeit, die meinen vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen geschenkt wird, die Aufmerksamkeit, die meiner dialektischen Vorstellung meiner selbst mit anderen geschenkt wird, und die Aufmerksamkeit, die meinen Gefühlen angesichts der Enthüllung dieser Erfahrungen in den Augen des anderen geschenkt wird. Die PerformerInnen betreiben also eine Art Triangulation um ihr “Selbst-ich” zwischen ihrer Beziehung zu sich selbst und zum anderen und zwischen Gegenwart und Vergangenheit, d.h. zwischen ihren Erfahrungen, ihren Gefühlen angesichts dieser Erfahrungen und ihren Gefühlen angesichts der Offenlegung dieser Erfahrungen im Raum der Aufführung.

Forschungsaufenthalt im Rahmen des Forschungsstipendiums Denkzeit **:
vom 22. Juli bis 8. August 2020. Leipzig. Mit: Clara Sjölin. Assistenz: Nacha Bascourleguy, German Farias.

Öffentliche Präsentation: 7. April 2019, Flutgraben Performances *, Berlin
Mit: German Farias, Nils Ulber

Videos:

German Farias, Ausschnitte aus den Proben, Januar 2019, Leipzig:
German Farias wurde in Rosario, Argentinien, geboren und wurde schon in jungen Jahren von argentinischer Folklore gerockt. Indem er seine Tänze und sein gestisches und verbales Vokabular dekonstruiert, bringt er die Präsenz der afrikanischen und indianischen kulturellen Wurzeln ans Licht, aus denen er besteht. Diese Enthüllung erfolgt durch eine Anklage gegen die institutionelle und soziale Ablehnung des Vorhandenseins dieser Wurzeln in der argentinischen Kultur und gegen den Willen, sich mit einem phantasierten Ideal der europäischen Kultur und der westlichen Kultur im Allgemeinen zu identifizieren. . Gefangen in dieser kollektiven Identität, die von ihren Widersprüchen zerrissen wird, versucht der junge Tänzer, seine Individualität durch seine persönlichen Entscheidungen zu erfassen.

Nils Ulber, Performance-Auschnitte, April 2019, Flutgraben Performances *, Berlin:
Für den jungen Tänzer, der er war, geschah zufällig die Geburt eines kleinen Mädchens Nils als Paradigmenwechsel. Ein Elternteil zu werden bedeutet manchmal eine Neudefinition der Beziehung zu sich selbst und der Beziehung zu anderen. In diesem Solo erforscht Nils die Erinnerungen und Emotionen, die ihn während seines Trainings durchdrungen haben, um sich selbst als Vater zu entdecken und zu erkennen.

Clara Sjölin, Ausschnitte aus den Proben, August 2020, Denkzeit Stipendium **, Leipzig:
Den tanzenden Körpers dekontruieren. Die technische Wahrnehmung deren dekonstruieren. Welche Empfindungen enthält dieser nicht-technische Körper? Welche Wörter enthält es? Wie wird es von anderen wahrgenommen? Welche Empfindungen werden ihm zugeschrieben? Welche Person ist ihr zugeordnet?
Diese Fragen durchlaufen Claras Untersuchung, wie sie ihren Körper sieht und wie er von anderen gesehen wird. Wie nähere ich mich diesem tanztrainierten Körper? Wie kann man sich diesen körperlichen Empfindungen, die so oft erforscht, benannt, hierarchisiert, organisiert wurden, auf naive Weise nähern? Wie kann man die Technik des Körpers dekonstruieren und die Intimität dieses sich bewegenden Körpers wieder entdecken? Wie kann man diese Empfindungen tanzen, befreit von den technischen Fesseln, die sie normalerweise lenken, und ihre Ausdrucksmodalität bestimmen? #denkzeitstipendium

*Flutgraben Performances wird vom Ministerium für Kultur und Europa des Berliner Senats finanziert und vom Flutgraben e.V. sowie von der Öffentlichkeit im privaten Studio unterstützt.

** Die Entstehung dieses Werks wurde durch ein Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen ermöglicht.

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