Forschung für Tanzpädagogik, Performance und Choreographie.

Ziel dieser Recherche ist es, pädagogische und künstlerische Ansätze zu entwickeln und zu verbreiten, die ein vertieftes Verständnis der Verbindungen zwischen Sehen und Bewegung integrieren.
Öffentliche Symposien:
Sehen, sich bewegen und bewegt werden I – Juli 24. & 25.2021
Tanz Workshops und Seminarien von : Maike Hautz, Ali Schwarz, Susanna Ylikoski, Charlie Fouchier
Sehen, sich bewegen und bewegt werden II – September 25. & 26.2021
Gäste:
Dr. Nicolás Araneda Hinrichs (Psycholinguist, Institut für angewandte Linguistik und Translatologie, Leipzig).
Maike Hautz (Performancekünstlerin, Tänzerin und Musikerin, Leipzig).
Tommaso Tosato (Neurowissenschaftler, Ernst Strüngmann Institut, Frankfurt).
Susanna Ylikoski (Tanzkünstlerin und Autorin, Berlin)
Grundsätze, Annahmen und Ziele:
Alltägliche Bewegung.
Im Alltag sind mein Körper und meine Bewegung auf Objekte und Ziele gerichtet, die außerhalb von ihnen liegen: Es ist die Gabel, die ich zum Essen greife, die Richtung, in die ich mit dem Finger zeige, oder die einfache Tatsache, sich von einem Raum zum anderen zu bewegen. Mein Blick geht der Ausführung meiner Bewegungen immer voraus(1a) und hat im Vergleich zu meinen anderen Sinnen einen dominanten Platz in meinem Wahrnehmungsfeld (er ist z.B. der wichtigste Beitrag zur Aufrechterhaltung meines Gleichgewichts (2)). Indem ich mich auf die Objekte konzentriere, auf die ich einwirken will, dient mein Blick dazu, Informationen über meine Umgebung zu sammeln, und dank dieser Informationen definiere ich die Ziele meiner Handlungen und die Art und Weise, wie ich sie ausführe.
Getanzte Bewegung
Unter der Leitung des Blicks sind die Bewegungen des Alltags also funktionale Bewegungen: Sie sind ein Mittel zu einem Zweck, der sich von ihnen unterscheidet. Im Tanz steht der Tänzer nicht in Beziehung zu äußeren Objekten. Die getanzten Bewegungen haben keine exogene Teleologie: ihr Ziel ist im Gegenteil ihre eigene Verwirklichung. Der Tänzer wird dann selbst zu dem, was ihm bewusst ist und zum Ziel seiner Bewegung. Er ist sowohl Mittel als auch Zweck der Aktion, die er unternimmt.
Der Blick in der getanzten Bewegung
In dieser Situation verliert die informative Funktion des Blicks ihre Notwendigkeit und ihren dominanten Platz in der Hierarchie meiner Sinne. Ich werde mir meiner propriozeptiven Empfindungen bewusster, und diese werden zu einer wichtigeren Referenz in der Wahrnehmung meiner Bewegungen und für deren Umsetzung. In dieser Situation wird der Blick für die tanzende Person manchmal zu einem etwas fremden und fast überflüssigen Werkzeug, am Körper befestigten, von dem sie manchmal nicht genau weiß, was sie tun soll.
Sehen und Körperwahrnehmung
Und doch ist das Sehen ein wesentlicher Bestandteil unserer Körperwahrnehmung und unserer Motorik. In Verbindung mit unserer Propriozeption ist die visuelle Wahrnehmung unseres Körpers an der Ausarbeitung unseres Körperschemas beteiligt: Weil ich sehe, dass sich meine Hand bewegt, und gleichzeitig fühle, dass sie sich bewegt, lerne ich, sie zu kontrollieren. Diese visuelle Kontrolle unseres Körpers ist wesentlich für die Präzision unserer Bewegungen (1b).
Mein Körper und der Raum
Außerdem dient diese visuelle und propriozeptive Wahrnehmung, die ich von meinem Körper habe, als Grundlage für meine Raumwahrnehmung. Mein Körper ist einen perzeptiven Prüfstein der Wahrnehmung meiner Umwelt: Weil ich die räumliche und zeitliche Kontinuität meines Körpers erfahre, kann ich die räumliche und zeitliche Kontinuität meiner Umwelt wahrnehmen. Und umgekehrt sind meine – taktile und visuelle – Wahrnehmung des Raumes und die der Objekte in meiner Umgebung an der Ausarbeitung meiner Körperwahrnehmung beteiligt: Weil ich visuell und taktil meinen Körper von den Objekten und Räumen in meiner Umgebung unterscheide, werde ich mir der Grenzen, Eigenschaften und der räumlichen und zeitlichen Kontinuität dieser bewusst.
Sich bewegen
Nach dem Prinzip der Wahrnehmungs-Handlungs Kopplung haben sich unsere Motorik und unsere Wahrnehmung genetisch in einer engen funktionellen Verflechtung miteinander entwickelt. Unsere Bewegungen würden also auf neuronaler Ebene in Form von wahrnehmbaren Auswirkungen auf unsere Umwelt kodiert (3). Auch die Existenz von Spiegelneuronen unterstützt diese Idee einer Verflechtung von wahrnehmungsbezogenen und motorischen neurologischen Prozessen. Andere Studien schließlich, die sich auf die Theorien der embodied cognition stützen, tendieren dazu zu zeigen, dass unsere Wahrnehmung, unser emotionales Empfinden und unsere kognitiven Operationen durch die Bewegungen, die wir machen, oder einfach durch die Position unseres Körpers beeinflusst, ja sogar geformt werden.
Denken im/durch den Raum
Abgesehen von der engen Verbindung zwischen meiner Körperwahrnehmung und meiner Raumwahrnehmung, ist es wichtig zu bemerken, dass letztere keine neutrale Fähigkeit ist. Die Wahrnehmung der Dreidimensionalität des Raumes und die Lokalisierung und Identifizierung von Objekten und deren Beziehungen bestehen nicht nur aus rein logischen neuronalen Operationen der Verarbeitung visueller (und taktiler) Wahrnehmungen. Unsere Raumwahrnehmung beinhaltet intrinsisch die Zuschreibung von Bedeutungen zu Objekten und Räumen (4). Mein Gehirn nimmt Raum und Objekte nicht einfach so wahr, wie ein Blatt Papier mit einem Bild bedruckt wäre. Es konstruiert kontinuierlich meine Umwelt durch kognitive Prozesse der Erinnerung, Bewertung und Anordnung von semantischen Inhalten die mit somatische Zustände (d.h. mit emotionale Zustände) verbinden sind (5).
Die tiefe biologische und psychische Verflechtung von Sehen und Bewegung und die inhärent semantische und emotionale Natur des von uns wahrgenommenen Raums zwingen uns, unser Verständnis von Tanz neu zu überdenken, indem wir unsere Augen und visuellen Wahrnehmungen in die Konzpetion selbst der Tanzbewegungen einbeziehen.
Wie beeinflusst die Tanzbewegung meinen Blick und meine Raumwahrnehmung? Wie können die Modulationen meiner Aufmerksamkeit auf meinen Blick mein Tanzen beeinflussen? Wie kann ich meinen Blick beim Tanzen am sinnvollsten nutzen? Wie kann ich eine Choreografie entwerfen, die die konstitutive Dimension des Sehens in meiner Körperschema berücksichtigt? Ist es möglich, eine Choreografie zu entwerfen, die berücksichtigt, wie meine Wahrnehmung des Raumes meine kognitiven Prozesse und emotionalen Zustände beeinflusst?
Das Ziel dieser Forschung ist es, Künstler, Tänzer, Praktiker von körperliche Praxen und Wissenschaftler zusammenzubringen, um diese Fragen zu diskutieren. Wir folgen drei Forschungsachsen:
– Wahrnehmung meines Körpers in Bezug auf den Raum: Wir erforschen, wie meine Raumwahrnehmung an der Ausarbeitung und Aufrechterhaltung meines Körperschemas sowie an der Wahrnehmung, Darstellung und Durchführung meiner Bewegungen beteiligt ist.
– Semantischer Aspekt meiner Raumwahrnehmung: Inwieweit ist meine Raumwahrnehmung daran beteiligt, den Räumen und Objekten um mich herum Bedeutung zuzuschreiben.
– Wahrnehmung meines Körpers in Bezug auf dieses semantische Netzwerk: inwieweit bestimmen die Räume und Objekte um mich herum meine Körperwahrnehmung, mein Körperschema und meine Art, mich zu bewegen.
(1) Ross A. I., Schenk T., Hesse C., 2015.
a) “eye-movements typically precede motor actions suggesting that the main role of vision is to provide the motor system with the information needed to successfully complete an action”
b) “as soon as visual feedback of the moving hand is prevented, reaching and grasping movements were found to show systematic errors”
(2) Hansson EE, Beckman A, Håkansson A (December 2010).
(3) Hommel, B.; Müsseler, J.; Aschersleben, G.; Prinz, W., 2001
Prinz W., 2010
(4) Jeannerod, M.; Jacob, P. (2005-01-01).
1040 : “Since it penetrates deeply into visual knowledge of the world, visual perception cannot be limited to selecting an object from its surroundings, identifying it and giving it meaning. Semantic processing of visual inputs also implies comparison, which in turn requires that several objects be simultaneously represented and analyzed: hence, object perception in turn presupposes the representation of spatial relationships among two or more objects in a coordinate system independent from the perceiver. Spatial relationships in themselves carry cues for attributing meaning to an object, so that their processing is actually part of semantic processing of visual information.”
(5) Body memory and the unconscious, Thomas Fuchs, 2011
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© Picture : Andrea Piacquadio
Dieses Projekt wurde gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, Hilfsprogramm DIS-TANZEN des Dachverband Tanz Deutschland.